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Lost Judgment

Lost Judgment

Als japanischer Privatdetektiv nehmen wir einen neuen Fall an, der Unmengen von Verwicklungen und noch mehr Minispiele zu bieten hat.

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Die Yakuza-Reihe ist in den letzten Jahren höchst umtriebig. Kamen die ersten PS2-Episoden nur mit riesiger Verspätung, teils merkwürdiger Lokalisierung oder, im Falle diverser Spin-Offs, gar nicht in den Westen, sieht das mit den jüngeren Installationen ganz anders aus. Yakuza 5 auf der PS3 und Teil 6 auf der PS4 wurden auch außerhalb Japans zu gut verkauften Hits, was den Entwicklern von Ryu ga Gotoku Studio ganz neue Produktionsbudgets erschloss. Das Spin-Off „Judgment" wurde erst vor kurzem mit einem PS5-Upgrade beehrt und auch Yakuza 7 (hierzulande Yakuza: Like a Dragon genannt), das nun allerdings ins Rollenspielgefilde abgewandert ist, macht auf den aktuellen Konsole eine hervorragende Figur. Die Straßenkämpfe, die eigentlich immer Hauptbestandteil der Yakuza-Serie waren, sind inzwischen jedoch die Domäne von Judgment, das mit dem neuesten Ableger Lost Judgment nun selbst zur Serie geworden ist.

Die Hauptfigur ist Takayuki Yagami, in jüngeren Jahren ein Staranwalt, der durch einen tragischen Mordfall seinen Glauben in die Gerechtigkeit verloren hatte und sich seitdem als Privatdetektiv durch das Rotlichtviertel Tokyos schlägt. Den ersten Teil dominierte seine Hintergrundgeschichte, deshalb trat der Held meist nachdenklich und von Selbstzweifeln geplagt auf. Das verlieh der Handlung einen für die Serie etwas untypischen, realistischen und ernsten Unterton. Einige Kritik gab es für die spielerisch sehr antiquiert wirkenden Detektivaufgaben, allen voran die Beschattungsmissionen. All diese Aspekte sind in Lost Judgment angegangen worden, denn Yagami ist inzwischen mit seiner Vergangenheit im Reinen und geht seinem Job als privater Ermittler mit mehr Elan nach. Auch sein Kumpel Kaito, ein Ex-Yakuza, hilft immer noch eifrig bei den Fällen mit. Schon bald verschlägt es die beiden aus dem fiktiven tokyoter Rotlichtviertel Kamurocho, welches die Bühne für praktisch alle Yakuza-Teile sowie Judgment bot, in die Hafenstadt Yokohama. Das ist natürlich kein Zufall, da ein Teil Yokohamas doch gerade erst für Yakuza 7 aufwendig digital nachgebildet wurde.

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Von der Story wird man häufig so stark eingeschränkt und zum Zuhören verdammt, dass das Geschehen fast wie eine Visual Novel wirkt.
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Fans der Spiele werden von der neuen Umgebung deshalb nicht direkt aus den Latschen gehauen, auch wenn weiter an den Locations gefeilt wurde und natürlich einige neue Orte hinzukamen. Da wäre zum Beispiel ein komplettes Schulgelände mit vier Etagen zu nennen, denn die Aufgabe der beiden Herren ist es, Mobbing-Vorwürfen in einer High School nachzugehen. Hier heben sich sicher einige Augenbrauen, da die Story, wie man in den Trailern bislang gut sehen konnte, Krimi-typisch mit dem Fund einer von Maden zerfressenen Leiche beginnt. Doch natürlich stellt sich heraus, dass die beiden Fälle in Verbindung stehen, denn das Opfer war in jüngerer Vergangenheit Lehrer an besagter Schule. Es ist toll, dass ein ernstes Thema wie Mobbing in einem Game aufgegriffen wird, zumal in Japan jährlich an die 300 Schüler Selbstmord begehen. Dass aktuelle gesellschaftspolitische Fakten in die Handlung eingeflochten werden, ist ebenfalls ein Markenzeichen der Serie. Selbst das Thema „Scalping von Sammelgegenständen" wird in einer Nebengeschichte auf die Schippe genommen - ein abrupter Wechsel zwischen Ernst und Albernheit ist in den Arbeiten des Studios eine Konstante.

Das Thema Mobbing wird zwar eigentlich mit dem nötigen Ernst behandelt, einige Sachverhalte und vor allem Lösungsansätze sind allerdings so flach und eindimensional, dass es schon fast weh tut. Das in Verbindung mit den typisch ausufernd langen Dialogen, in denen oft jede Information mindestens dreimal wiederholt wird, machen das Schul-Thema diesmal etwas mühsam, und wenn Yagami im 21-Jump-Street-Stil zum Tanzlehrer wird (mit passendem Rhythmusspiel), müssen Yakuza-Fans sicher erst einmal tief durchatmen. Die eigentlich immer reizvolle Kombination aus Spaß und Ernst scheint mir in dem Schulszenario nicht ganz aufgehen zu wollen. Da kommt es gelegen, dass die Geschichte irgendwann wieder einen Haken schlägt und sich in eine andere Richtung fortsetzt.

Wer hingegen auf japanische Schulgeschichten steht, die ja in unzähligen Spielen, wie Shin Megami Tensei oder Persona, eine große Rolle spielen, kann sich auch in Lost Judgement weiter austoben. Diverse Betätigungsfelder an der Schule können weiter verfolgt werden, und dabei wird mal wieder eine geradezu unfassbar abwechslungsreiche und tiefgehende Menge an Minispielen aufgefahren. Hier wollen wir gar nicht groß spoilern, aber alle Aktivitäten aus dem ersten Teil finden sich auch in Lost Judgment 1:1 wieder - wie Drohnenrennen, das Herstellen absurder Heilkräuter aus Straßenmüll, sowie Spielhallenbesuche mit emulierten Sega-Automaten, wie Motor Raid und Sonic: The Fighters. Das Ganze darf man vom Umfang her aber noch mal drei nehmen, auch weil ihr euch diesmal in der Detektei an ein Sega Master System setzen könnt, für das man sogar neue Spiele freischalten kann. Neu dazu kommen Nebenbeschäftigungen, wie Skateboardfahren, Boxen und wie gesagt diverse andere, sportliche Betätigungen im Schulumfeld.

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Auch die Detektivarbeit wurde, wie Anfangs erwähnt, verbessert. Muteten die Beschattungsmissionen im ersten Teil noch wie eine krude Nachahmung des ersten Assasin's Creed an, hat man nun auch dessen Parcours-Elemente in abgespeckter Form übernommen. Diesmal klettert und hangelt sich Yagami an Rohren entlang, aber auf eine eher langatmige, ungelenke Art. Immerhin gibt es eine Ausdaueranzeige, die ich in der echten Assassin's-Creed-Reihe schon immer vermisse. Die eigentlichen Beschattungen wurden immerhin verkürzt und wir können uns nun aus der Affäre ziehen, falls wir entdeckt wurden, indem Tak völlig unbeteiligt tut und an seinem Handy herumspielt. Auch das Absuchen von Tatorten, das früher statisch und wie bei einem alten Point&Click-Adventure war, ist nun durch die Möglichkeit, sich zu bewegen, etwas interessanter.

Wie aus der Zeit gefallen wirken hingegen Einlagen, in denen man zum Beispiel eine Münze wirft, um Gegner abzulenken - während das in jedem anderen Open-World-Spiel nach Belieben völlig frei eingesetzt werden kann, ist es hier ein geskriptetes Event, in dem man die Münze an genau eine Stelle werfen kann - aber auch nur, wenn einem das Spiel sagt, das man es tun soll. Es ist sehr merkwürdig, aber wie bei vielen Dingen in diesem Spiel wird man oft von der Story so eingeschränkt und zum Zuhören verdammt, dass das Geschehen fast wie eine Visual Novel wirkt. Wahrscheinlich ist das sogar Absicht, denn die neuen, animierten Charaktermodelle, die nun während der Gespräche links und rechts am Bildschirm eingeblendet werden, erfüllen auch optisch die Kriterien eines sehr aufwendig gemachten Spiele-Romans.

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Yagami ist inzwischen mit seiner Vergangenheit im Reinen und geht seinem Job als privater Ermittler mit mehr Elan nach

All diese Punkte klingen nach viel Kritik - und ich muss zugeben, dass mich Lost Judgment als Fan der Serie an vielen Punkten ein wenig irritierte. Es gibt viele kleine Verbesserungen, die oft jedoch auch ihre eigenen Macken haben, sodass sich das Ganze wie „ein Schritt vor, ein Schritt zurück" anfühlt. Bedingungslos punkten kann der Titel dafür beim Content, denn Lost Judgment tafelt fast ebenso absurd opulent auf, wie der zuvor umfangreichste Serienteil Yakuza 5. Wenn man einfach nur die Story mit minimalem Aufwand durchspielt, hat man maximal ein Viertel des Spiels gesehen, wenn überhaupt. Dazu kommt natürlich das ganze Straßenkämpfer-Gameplay, bei dem Yagami diesmal drei unterschiedliche Stile beherrscht, die sich mit unzähligen freischaltbaren Moves und Skills erweitern lassen, und dass man schon direkt beim Spielstart im „Zwei Spieler Versus-Modus" emulierte Spielekracher wie Virtua Fighter 5 zocken kann - einfach mal als kleiner Bonus mit eingebaut. Das ist schon wild. Dazu sind Grafik und Animationen super gemacht und selbst die Musik ist abwechslungsreicher als im Vorgänger.

Wiegt man all das gegeneinander ab und folgt Zeugenaussagen und Indizien, so wie es Yagami tun würde, kommt man zu dem Urteil, dass Justizias Waagschalen hier in Balance sind. Lost Judgment verliert (zumindest für meinen Geschmack) im Bereich der Story etwas Antrieb, doch dieser Nachteil wird durch den gigantischen Umfang und die unglaubliche Wundertüte japanischer Popkultur ausgeglichen, die mit wahlweise englischer oder japanischer Synchro daherkommt. Außerdem wird dem Katzenfreund Yagami diesmal auch ein niedlicher Shiba-Inu-Hund zur Seite stellt. Da ist einfach für jeden Geschmack, sowohl für alte Hasen als auch neue Fans, etwas dabei, mit dem man sich beschäftigen kann. Und so macht Yagami seinen „Schulabschluss" am Ende auch diesmal wieder mit einer sehr guten Note.

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08 Gamereactor Deutschland
8 / 10
+
gigantischer Umfang, audiovisuell ausgefeilt, starke Minispiele.
-
einige Spielsysteme wirken antiquiert, Balance zwischen Ernst und Komik manchmal unpassend, ausufernde Gespräche mit teilweise redundantem Inhalt.
overall score
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