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Sherlock Holmes Chapter One

Sherlock Holmes Chapter One

Der berühmte Detektiv verlässt London, um sich auf sein bisher persönlichstes Abenteuer zu begeben.

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Sherlock Holmes Chapter OneSherlock Holmes Chapter OneSherlock Holmes Chapter One
Bestimmte Gegenstände erinnern Sherlock und Jon an Ereignisse aus ihrer Kindheit. Dadurch erfahren wir mehr über die beiden Männer.

Obwohl es über fünfzig Geschichten, diverse Theaterstücke, Bücher, Filme, Serien und Videospiele zum Thema Sherlock Holmes gibt, wissen wir erstaunlich wenig über den legendärsten Detektiv der Welt. Natürlich kennt jeder die Figur mit dem scharfen Verstand, den er nur zu gerne vorführt, aber vieles aus seinem persönlichen Leben bleibt geheimnisvoll. Das soll sich jetzt ändern, denn die ukrainischen Entwickler von Frogwares erzählen uns mit Sherlock Holmes Chapter One die dramatische Hintergrundgeschichte dieser ikonischen Person.

Das Spiel beginnt mit Sherlock und seinem Jugendfreund Jon, der keine Verbindung zu Holmes' üblichem Partner Dr. John Watson aufweist. Die beiden Männer erreichen auf einem Boot die fiktionale Mittelmeerinsel Cordona, auf der der junge Mann in diesem Universum aufwuchs. Er kehrt nach all den Jahren zurück, um seiner verstorbenen Mutter die letzte Ehre zu erweisen. Sherlock ist noch jung, aber er wird schnell die Gelegenheit bekommen, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Cordona weist nämlich eine Mordrate auf, die Tijuana und Kapstadt wie ruhige Vororte wirken lassen. Die Polizei scheint - wenn überhaupt - immer die falschen Leute zu verhaften und Holmes ist schnell in verschiedene Fälle verstrickt, von denen uns einige auch etwas über seine eigene Vergangenheit verraten.

Diese Fälle zu lösen ist mit der üblichen Lauferei verbunden: Ihr müsst die Umgebungen nach Hinweisen durchkämmen, Verdächtige befragen und Beweise präsentieren. Diese Rätselmechaniken sind solide, aber wirklich beeindruckend sind die mentalen Aspekte der Ermittlungen. Manchmal müssen wir die Ereignisse rekonstruieren und dafür setzt sich Sherlock hin, schließt seine Augen und konzentriert sich, während wir mit Jon versuchen, die Puzzleteile zusammenzufügen. Die alternativen Interpretationsmöglichkeiten werden als künstlerische Skizzen dargestellt und um die richtige Variante zu finden, müssen wir genau auf alle visuellen und geschriebenen Hinweise achten. Wenn alle Puzzleteile gesammelt wurden, werden sie im sogenannten Mind-Palace zusammengefügt - möglichst ohne falsche Schlüsse zu ziehen und auf diese Weise vielleicht Unschuldige hinter Gitter zu bringen.

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Genau wie im vorherigen Spiel der Entwickler, The Sinking City, finden unsere Ermittlungen in einer offenen Welt statt und Cordona ist ein wunderschöner Schauplatz. Wie die Sonne durch die vernagelten Fenster in den ärmeren Bezirken scheint oder wie die Glühwürmchen um die Büsche an der Promenade tanzen; die Insel ist in eine magische und mysteriöse Atmosphäre gehüllt, die von einem großartigen Soundtrack noch weiter verstärkt wird. Die Straßen sind voller Leben und die Bewohner gehen ihrem Tagwerk nach, reparieren Möbel oder tummeln sich am Teich, während die Polizei durch die Stadt patrouilliert.

Die Welt fühlt sich lebendig an, denn Cordona wirkt wie ein harmonisches Sammelbecken unterschiedlicher Kulturen. Die Unterdrückung der britischen Kolonialregierung sorgt allerdings für Spannungen in der mehrschichtigen Gesellschaft: Die hauptsächlich osmanische Bevölkerung hegt einen Groll gegen die britischen Herrscher, eine Gruppe Immigranten steht kurz vor der Rebellion und die Oberschicht lehnt alle unter ihrem Stand ab. Jeder Bezirk hat seine eigene Architektur, eine soziale Struktur und hinter jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken. Das kann eine tolle Aussicht oder ein dunkles Geheimnis sein, lasst euch davon also überraschen. Grafisch kann das Spiel nicht mit den Titeln der größeren Entwickler mithalten, aber das spielt bei einem so tollen Design gar keine große Rolle.

Die Entwickler haben das bekannte Spielprinzip im Laufe der Zeit immer weiter ausgebaut und Sherlocks mentalen Werkzeugkasten dadurch mit vielen unnötigen Mechaniken überladen. Sherlock Holmes Chapter One dreht die Spirale jedoch ein wenig zurück (Schlösserknacken müssen wir zum Beispiel nicht mehr) und führt ein paar neue Dinge ein, die in erster Linie der offenen Spielwelt dienen. Das Belauschen von Gesprächen hätte zwar besser implementiert werden können, aber wir kommen dadurch an neue Hinweise oder werden auf weitere Fälle aufmerksam. Wir können die NPCs auch direkt nach Tipps und Hinweisen fragen, wenn wir denn wissen, an wen wir uns dafür wenden müssen.

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Sherlock Holmes ist sich nicht zu fein, sich für die Wahrheit die Finger schmutzig zu machen. Doch wie weit werdet ihr für seine Überzeugungen gehen?

Dabei kommt eine der größten Stärken Sherlock Holmes' zum Einsatz: seine Fähigkeit, schon auf den ersten Blick fast alles über eine Person in Erfahrung zu bringen. Das funktioniert ähnlich wie bei Watch Dogs und Co., aber da es im späten 19. Jahrhundert noch keine Smartphones gab, die gehackt werden könnten, nutzt der Meisterdetektiv seine Schlussfolgerungsgabe, um ein Miniaturporträt der Person zu erstellen, die er gerade ansieht. Es ist eine praktische Art, mit der Welt zu interagieren, die zu amüsanten Resultaten führen kann. Ich habe zum Beispiel einen ausländischen Grundschüler gefunden, dem das Spiel das Attribut streitsüchtig zugeordnet hat (hoffentlich benimmt sich der junge Mann in Zukunft)...Ihr habt sicher gelernt, dass man Bücher nicht nach dem Umschlag beurteilen soll, aber das interessiert Holmes während seiner erbarmungslosen Suche nach der Wahrheit nur wenig.

Oft geben die Leute nur Informationen an Personen aus der gleichen Schicht und Kultur weiter, ihr braucht also diverse Verkleidungen, um an die brisanteren Informationen zu gelangen oder in abgesperrte Bereiche gelassen zu werden. Viele der Verkleidungen gelten heute vielleicht als ein wenig unsensibel, aber immerhin sind sie schön hinterlistig und all das wird toll mit der Geschichte verwoben. Am Anfang des Spiels wirkt der idealistische Holmes recht arrogant, denn ihm bedeutet die Suche nach der Wahrheit mehr als alles andere auf der Welt. Im Laufe der Geschichte wird er jedoch mit moralischen Grauzonen konfrontiert und steht vor schweren Entscheidungen: Ist es fair mit Lügen und Tricks der Wahrheit näherzukommen? Sollte die Wahrheit manchmal besser verschwiegen werden? Häufig müssen wir uns diese Fragen selbst beantworten, wenn wir Leute mit ihren Taten davonkommen lassen - natürlich immer abhängig von der Situation. Unsere Entscheidungen und Schlussfolgerungen sorgen dafür, dass die Hauptgeschichte vier unterschiedliche Enden haben kann.

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Die interessanten Fälle, die gutgeschriebenen Dialoge und die vielen überraschenden Wendungen machen die Story zu einem echten Highlight. Selbst die Scherze zwischen Sherlock und Jon, die mich anfangs noch genervt haben, sind mir im Laufe der Zeit ans Herz gewachsen, weil wir auf diese Weise mehr über die Freundschaft der beiden Männer erfahren. Mein einziger Kritikpunkt ist das abrupte Ende, denn ich hatte das Gefühl, dass die Handlung im Laufe der Produktion ein wenig eingedampft wurde. Das mache ich unter anderem daran fest, dass nur drei der fünf Bezirke der Insel für unsere Hauptuntersuchungen genutzt werden.

Trotz der großen, offenen Welt habt ihr das Spiel in gut zwölf Stunden abgeschlossen, wenn ihr euch beeilt. Aber ihr solltet euch Zeit lassen, denn das Spiel belohnt uns dafür, in Cordona jeden Stein umzudrehen. Bestimmte Gegenstände erinnern Sherlock und Jon an Ereignisse aus ihrer Kindheit, ihr könnt das Holmes-Anwesen mit Möbeln und Gegenständen dekorieren und die vielen Nebenmissionen sind häufig ähnlich komplex wie die Fälle, mit denen wir uns im Rahmen der Hauptgeschichte beschäftigen. Ihr könnt das Spiel entsprechend euren Fähigkeiten und Wünschen anpassen und diverse Hilfen an- und abschalten. Das gilt auch für die Schusswechsel, die nicht so stark zum Einsatz kommen, wie die Trailer suggerieren. Wenn ihr auf diese Komponente verzichten möchtet, könnt ihr die Knarren auch einfach komplett abschalten.

Sherlock Holmes Chapter One ist ein exzellentes Spiel. Prequels und Spiele in einer offenen Welt sind, was die Story betrifft, häufig eine kreative Bankrotterklärung, aber hier bereichert die Umgebung das Spielerlebnis auf vielen Ebenen. Frogwares hat eines der ambitioniertesten, herzerwärmendsten und tollsten Detektivabenteuer seit den goldenen Neunzigern geschaffen. Es ist vielleicht nicht das beste Detektivspiel aller Zeiten, denn das Gameplay ist dafür ein bisschen zu simpel und die Hauptgeschichte verspricht mehr, als sie am Ende liefern kann, aber das Spiel bringt das Genre weiter. Es wirkt wie die Realisierung dessen, was Team Bondi vor zehn Jahren mit L.A. Noire versucht hat: einem Sandkasten für Ermittlungen zu schaffen. Ihr macht mit diesem Game wirklich nichts falsch, wenn ihr Fans des Genres seid.

Sherlock Holmes Chapter OneSherlock Holmes Chapter OneSherlock Holmes Chapter One
Unsere Entscheidungen und Schlussfolgerungen münden in einem von vier unterschiedlichen Enden.
08 Gamereactor Deutschland
8 / 10
+
wunderschöne offene Welt, interessante Mechaniken, gut geschriebene und zum Nachdenken anregende Geschichte, solide Grafik und Präsentation, viel Inhalt.
-
die Hauptgeschichte endet zu abrupt, der Ermittlungsmechanik fehlt es ein bisschen an Spieltiefe.
overall score
ist die Durchschnittswertung von Gamereactor. Wie hoch ist eure Wertung? Die Durchschnittwertung aller Gamereactor-Redaktionen wird aus den Wertungen in allen Ländern erhoben, in denen es lokalen Gamereactor-Redaktionen gibt

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