Man erfinde: Isla Trueno. Die Landschaft dieser Fantasieinsel erinnert an Venezuela. Die Logik ihrer Bewohner erinnert an die der Moomins. General Vasquez, bärtig und fies, schlachtet die Bevölkerung ab, produziert Schwindel erregende Mengen Kokain und verkauft Waffen an eine Terroristengruppe. Letzteres kann das Pentagon nicht länger ignorieren: die US-Beamten schicken zwei Delta Force-Sniper auf die Insel, die dem alten Mann den Garaus machen sollen.
Einen der beiden top ausgebildeten Sniper, Tyler Wells, dürfen wir steuern. Aus der traditionellen First-Person-Perspektive mit dem Scharfschützengewehr im Anschlag. Wells' Aufgabe: Noch vor dem Mittagessen unentdeckt über Dschungelpfade zu Vasquez zu gelangen, um ihm eine 7,62 mm-Kugel zwischen den Augen zu platzieren. Auf seinem Weg liegen eine Menge ziemlich peinliches Gameplay und spielerisch ungelenke Strapazen vor uns - denn abgesehen von der schicken Grafik überzeugt Sniper: Ghost Warrior leider gar nicht.
Am vermeintlichen Ziel angekommen, misslingt das Attentat wegen einer plötzlichen Gasexplosion genau in dem Moment des sicher geglaubten Schusses. General Vasquez ist wütend. Und ein bisschen verängstigt. Er entkommt (samt Bart) in einem Boot, während wir alle alle Soldaten töten, die Vasquez verteidigt haben. Anschließend verfolgen wir den Bärtigen in den Dschungel, um die Mission abzuschließen.
Sniper: Ghost Warrior ist als Stealth-Game angelegt, das zum Robben durch die Landschaft ermutigt, mindestens aber immer schön geduckt. Am unteren Bildschirmrand ist eine Anzeige, die verraten soll, wie sichtbar (oder versteckt) man gerade ist. Dieses Stealth-Meter geht in die Geschichte der welt-schlechtesten Anzeigen aller Zeiten ein. Weil es einem schon mal anzeigt, dass man völlig unsichtbar ist - während man auf dem Dach eines Humvees steht, am helllichten Tage, und auf die Barracke nebenan feuert! Das gleiche Instrument zeigt an, dass man für alle Welt sichtbar ist, obwohl man in voller Camouflage im mannshohen Gras liegt. Die feindlichen Soldaten schießen trotzdem sofort und treffen immer mit 100 Prozent ihrer Schüsse in den Kopf.
Ich habe schon häufig darüber geschrieben, wie gerne ich als Scharfschütze spiele. Ich liebe die Sniper-Momente in Hitman, Killzone 2, Half-Life und Call Of Duty. Ich finde es nach wie vor seltsam, dass nicht mehr reine Sniper-Spiele entwickelt werden. Nach nur ein paar Stunden mit Sniper: Ghost Warrior liegt der Grund dafür jedoch auf der Hand: Gute Stealth-Action ist offenbar verdammt schwer zu realisieren. Es stellt hohe Anforderungen an eine nahezu perfekte Künstliche Intelligenz, und die Spielumgebung muss relativ offen sein, damit der Spieler nicht in der freien Wahl seines Weges durch das Spiel behindert wird.
Sniper: Ghost Warrior besteht aus einer riesigen Spieleumgebung. Die Wahlfreiheit des eigenen Spielstils ist gegeben. Man kann drauf los rennen und versuchen, alle Feinde wie eine billige Rambo-Kopie abzuknallen - oder das Ganze etwas subtiler angehen, und auf allen Vieren durch die Vegetation des Dschungels kriechen. Das Problem ist, dass keine der Optionen besonders gut funktioniert. Sniper: Ghost Warrior fühlt sich in vielerlei Hinsicht an wie ein halb fertiges Spiel.
Das Hauptproblem ist aber, dass das Stealth-Meter schlicht und ergreifend nicht funktioniert. Das macht Sniper: Ghost Warrior zum möglicherweise dümmsten Stealth-Game ever. Egal, wie gut man sich versteckt, für die feindlichen Soldaten ist das Aufspüren des Scharfschützen selten ein Problem - trotz Schatten, hoher Sträucher und der modernen Camouflage-Kleidung. Die Soldaten können auf wundersame Weise sehen, wenn man durchs Unterholz robbt, auch nachts, auch auf hunderte Meter Entfernung - und haben, wie gesagt, diese unheimliche Fähigkeit, mit jedem Schuss zu treffen - zumindest im höchsten Schwierigkeitsgrad.
Genau deshalb ist das hier ein unglaublich lästiges und übermäßig die Geduld forderndes Spiel. Ein Beispiel: Ich krieche auf dem Boden, das Gras ist 90 Zentimeter hoch, die Dämmerung bricht ein. Meine Mission ist, unentdeckt durch ein Dorf mit Soldaten zu kommen. Ich krieche langsam. Unglaublich langsam. Peng! Kopfschuss aus 800 Metern Entfernung. Game Over. Nächster Versuch. Dasselbe passiert, obwohl ich mich diesmal sogar noch ein bisschen langsamer bewegt habe.
Nach zehn Versuchen gebe ich auf und stürme stattdessen das Dorf mit meiner kleinkalibrigen Punk-Knarre. Die ersten beiden Soldaten reagieren auf meine Attacke, indem sie das Feuer eröffnen... auf einen Stein. Ich stehe minutenlang neben ihnen und beobachte, wie sie Magazin um Magazin in den Stein feuern, bevor ich ihnen mit einem Messer die Kehle aufschlitze. Sniper: Ghost Warrior ist in solchen Momenten einzigartig dämlich.
Die Entwickler, City Interactive, haben uns vor Veröffentlichung mit Pressemitteilungen überschüttet, in denen die Rede davon war, wie realitätsgetreu das Spiel sein würde. Die Pressemitteilungen klangen immer so, als würde man im Spiel sogar die Windrichtung, die Erdanziehung und -rotation und vielleicht sogar den eigenen Herzschlag einberechnen müssen, bevor man sein Sniper-Gewehr abfeuert. Das hörte sich extrem cool an. Tatsächlich muss man aber nichts weiter tun als rechtzeitig die Zeitlupen-Funktion zu aktivieren - dann muss man sich um die Windrichtung keine Sorgen machen. Um tausend feindliche Soldaten auszuschalten, braucht es nichts weiter als ein hastiges Drücken des rechten Abzuges im Zeitlupenmodus.
Setzt man den Schwierigkeitsgrad von "Normal" auf "Hart", braucht es etwas mehr als das, um den perfekten Treffer zu setzen. Dass das dann "100-prozentig realitätsgetreu" sein soll, kann ich dennoch nicht erkennen.
Sniper: Ghost Warrior beinhaltet nicht nur Sniper-Missionen. Nach ein paar Stunden verändert sich die Kampagne und Tyler Wells wird ersetzt durch einen Special Forces-Typen mit dem typischen klassischen Halstuch und Cargo-Hosen. Das Spiel wird plötzlich vom mittelmäßigen, aber atmosphärischen Stealth-Spiel zu einem sehr routinierten Battlefield-Klon, in dem die Fähigkeit des Feindes, mit jedem Schuss zu treffen, sogar noch wächst.
City Interactive hat schon früher Sniper-Spiele gemacht: Sniper: Art of Victory war ebenfalls ein konzeptioneller Traum, dessen arme Spielmechanik und geringe Künstliche Intelligenz das Spiel an die Genze des Unspielbaren brachten. Sniper: Ghost Warrior ist wesentlich besser, aber immer noch ein enttäuschendes und mittelmäßiges Actionspiel, dem es nie gelingt, wirklich zu beeindrucken.
Andererseits bin ich natürlich ungerecht: Wenn es etwas Gutes über das Game zu sagen gibt, dann über die Grafik. City Interactive hat wirklich das Beste aus Techlands (Call of Juarez) Grafik-Technologie herausgeholt. High-Resolution-Texturen, in Szene gesetzt von unglaublich geschmackvollem Licht und dabei beeindruckend kurze Ladezeiten. Sicherlich, die Designs sind manchmal klobig und die Animationen schwach - aber insgesamt sieht das alles sehr gut aus.
Die technische Probleme im Spiel dürfen aber nicht verschwiegen werden, nicht zuletzt eine oft flatterhafte Grafik. Das macht manche Sniper-Operation unnötig anstrengend, weil Steine oder Bäume leicht mal mit Feinden verwechselt werden. Sie erscheinen und verschwinden wie Stroboskop-Lichter. Außerdem musste ich mehrmals wegen irgendeines Bugs die ganze Mission neu starten. Gerade erst steckte ich zwischen zwei Brückenpfeilern fest und konnte mich nicht anders als durch einen Neustart befreien. Vorher blieb ich in einem Steinloch stecken und kam ebenfalls nicht frei.
Die meiste Zeit im Spiel kann man schwimmen. Aber es kommt vor, dass man durch einen zwei Meter tiefen Sturz von einem Felsvorsprung ins Wasser stirbt, obwohl es vorher nicht einmal ein Drittel Lebensenergie kostete, von einer Klippe zehn Meter in die Tiefe zu springen.
Doch damit nicht genug: Ein wirklich lästiger Bug ist, dass man auf Feinde nicht durch Zäune oder Glasscheiben hindurch schießen kann. Nicht einmal durch Maschendraht, durch den zweifelsfrei jede Kugel durch passt. Sniper: Ghost Warrior schützt feindliche Soldaten durch die von General Vasquez gezogenen Zäune. Man muss um sie herum gehen, während man selbst durch den Zaun hindurch von Kugeln durchsiebt wird.
Das Schlechteste an diesem Spiel sind aber weder die mangelnde Künstliche Intelligenz, noch die Technikfehler oder die manchmal dünne Logik. Auf der Hitliste der fettesten Mängel steht eindeutig der Sound ganz oben. Der Surround-Mix ist völlig misslungen. Regelmäßig hört man aus dem hinteren Lautsprechern Geräusche, die direkt vor einem erzeugt werden.
Es ist eine Schande, dass es bisher nicht gelungen ist, ein richtig gutes, pures Sniper-Spiel zu machen. Sniper Elite war genauso mittelmäßig wie dieses Spiel und es tut weh zu sehen, dass es vielleicht ganz einfach zu schwierig ist, so etwas zufriedenstellend umzusetzen. Während meiner unzähligen Crysis-Stunden habe ich lange die Künstliche Intelligenz des Feindes ausgetestet - unsichtbar im grünen Dschungel liegend habe ich hunderten böser Nordkoreaner die Köpfe punktiert. Das hat so viel mehr Spaß gemacht als Sniper: Ghost Warrior. Das stelle ich ins Regal und warte weiter auf das ultimative Sniper-Adventure.